Volksliedmelodien besitzen eine musikalische Substanz, die es möglich macht, bestimmte Grundtechniken der Harmonisation in hervorragender Weise zu erlernen.
Die Anwendung des nachfolgenden Lern-Konzepts ist besonders sinnvoll, wenn
– Vorbereitungszeit kurz ist, wie z. B. beim Vom Blatt – Begleiten eines Volksliedes
– man kein akkordfähiges Instrument wie das Klavier zur Hand hat
– die Hörvorstellungsfähigkeiten noch nicht ausreichend entwickelt sind.
Bei Anwendung dieses Konzepts können fast alle Lösungen ausschließlich übers Wissen gefunden werden. Eine intensive Übephase mit vielen Liedern ist aber unerlässlich. Stilistische Ausharmonisierungsfragen und Textbezüge werden so gut wie nicht berücksichtigt (s. dazu: Bernd Frank: Klavierimprovisation, Liedbegleitung vom Choral bis zum Popsong, 2 Bände: ED 9752-01 + ED 9752-02, Schott Verlag 2007). Notenbeispiel ist am Ende.
I. Gliederung der Melodie in Phrasen
Strukturiert Melodieabläufe, schafft besseren Überblick und erleichtert rückwärtiges Harmonisieren. Wenn keine Pausenzeichen an Phrasenenden stehen, helfen Kommas im Text und/oder melodische Verlaufsstruktur (s. Extra Artikel über „Struktur“), eine Gliederung in melodische Phrasen vorzunehmen.
II. Akkordauswahl festlegen
Level 1: T, S, D in Grundstellung und als Sextakkorde (nicht, wenn Melodie die Terz hat; Ausnahme: kontrapunktische Gegenbewegung zwischen Bass und Melodie); inklusive sixte ajoutée bei S, Sept bei D, verkürzter D7 mit Quint im Bass und Vorhaltsquartsextakkord)
Level 2: zusätzlich Nebendreiklänge (Moll-Klänge; s. auch zusätzliche Tipps Nr. 9)
Level 3: zusätzlich Zwischendominanten (meist als D7 mit Terz im Bass); meist innerhalb eines VII-III-VI-II-V-I Harmonisations-Konzeptes, wobei die Zwischendominanten meist wechselweise eingesetzt werden.
III. Schwerpunkte festlegen
Meist gilt folg. Regel:
4er Taktart: auf 1 + 3
6er Taktart: auf 1 + 4
3er Taktart: auf 1 + oft auf 3
2er Taktart: wenn z. B. in einem 2/4 Takt überwiegend 1/8 Noten vorkommen,
sollte er als 4/8 Taktart mit Schwerpunkten auf 1 + 3 interpretiert
werden.
IV. Lösungsstrategie für die Kombination von Akkordauswahl und Schwerpunkte
Untersuchen, ob Schwerpunktstöne in Bezug auf festgelegte Akkorde akkordeigene oder Vorhalts – Töne sind (s. Übungstabelle dazu in „Passende Harmonien finden“, in: „Üben & Musizieren“ Heft 3/2006, S. 59).
Z u s ä t zl i c h e T i p p s:
1. Modulation in der Liedmelodie erkennen
(meist moduliert das Lied in Dur zur Dominanttonart)
2. Tonsatzregeln beachten
z. B. Parallelenverbot
z. B. Verbot der Folge D – S (außer als romantischer Trugschluss oder
mit Terz in S, wenn kontrapunktische Gegenbewegung zwischen
Melodie und Bass vorliegt), Verbot der Folge Tp – T (harmoni-
scher Rückschritt)
3. Intervallstruktur der Melodie beachten
Oft besteht sie aus einer arpeggioartigen Folge von vollständigen oder unvollständigen Akkorden (Auftaktsnoten auch einbeziehen!)
4. Melodisches Umfeld der Melodie beachten
z. B. Mehrheit der Töne spricht für eine bestimmte Harmonie
z. B. Töne zwischen den Schwerpunktstönen als Wechsel, Durchgang oder frei einspringend erkennen
5. Harmonisches Umfeld beachten
z. B. beachte Tonsatzregeln (s. o.)
z. B. Prinzip der Variation (Abwechslung der Akkordtypen und Akkordlagen, insbesondere über den Taktstrich hinweg; Wiederholungen immer anders harmonisieren)
6. Harmonische Verdichtung an Phrasen-Enden und insbesondere am Schluss des Liedes; je nach Tempo: bis zu 2 Akkorden pro Zählzeit
7. Die Suche nach guten Akkorden immer mit der Suche nach einem Basslauf verbinden, der zur Melodie kontrapunktisch (insbesondere in Gegenbewegung) verläuft
8. Formelhafte Melodiewendungen und dazu passende formelhafte Ausharmonisierungen (s. „Passende Harmonien finden“, in: „Üben & Musizieren“ Heft 3/2006, S. 58 + S. 60)
9. Mollakkorde (sicherheitshalber) nur unter folg. Bedingungen einsetzen:
a) bei der Trugschlusswendung (Außenstimmen in Gegenbewegung)
b) bei der Vermollung der Subdominante (s. Romantik)
c) bei der Stufenfolge III – IV (Außenstimmen in Gegenwegung)
d) innerhalb des VII-III-VI-II-V-I Harmonisations-Konzepts (mit leitereigenen Akkorden)
10. Wenn bei Anwendung des VII-III-VI-II-V-I Harmonisations-Konzepts (mit leitereigenen Akkorden) die Mollakkorde (III, VI, II) mit melodischen Schwerpunktstönen konfrontiert würden, die eine kleine Septe zumGrundton darstellen, dann wird die Verwendung von Zwischendominanten (als D7 mit Terz im Bass) geradezu provoziert.
11. Insbesondere im romantischen Lied kann bei Dominante, Doppel- und
Zwischendominante die große None in der Melodie liegen. Meist wird dann mit einem verkürzten D7/9 mit Terz im Bass harmonisiert.
Literatur:
Bernd Frank: „Passende Harmonien finden“, in „Üben & Musizieren“ Heft 3/2006
Bernd Frank: Klavierimprovisation, Liedbegleitung vom Choral bis zum Popsong, 2 Bände: ED 9752-01 + ED 9752-02, Schott Verlag 2007
Noten + Grafik
Nun will der Lenz uns grüßen.pdf